Alabama Song by Gilles Leroy

Alabama Song by Gilles Leroy

Autor:Gilles Leroy [Leroy Gilles]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Zelda Fitzgerald, Goldene Zwanziger, Frauen, Schicksal
ISBN: 978-3-0369-9135-1
Herausgeber: Kein & Aber AG
veröffentlicht: 2015-09-20T16:00:00+00:00


Gestern Nacht haben wir so sehr gelacht, haben in so prächtiger Stimmung gegessen, die Gesellschaft war einfach fabelhaft, man tanzte …

Doch ach! Meine zerquetschten Füße bluten in meinen Spitzenschuhen aus Satin. Mein Schicksal spielt verrückt, und die magere Hoffnung macht schlapp. Es gibt Leute, die behaupten, ich hätte mir meinen Untergang selbst ausgesucht, hätte ihn gewollt und darauf hingearbeitet. Diese Schwachköpfe!

Ich erinnere mich an die Nächte im Camp Sheridan. Ich tanzte, bis meine Füße nur noch die von der Reibung auf dem Parkett erhitzten, glühenden Sohlen spürten. Dann zog ich meine Pumps aus und tanzte mit bloßen Füßen weiter. Die Piloten klatschten, die Mechaniker, die Funker und Fluglotsen. Meine Röcke wirbelten, und mit erhobenem Finger oder verzerrtem Mund äffte ich die Gesten der jungen Männer nach, deren Bedeutung ich überhaupt nicht verstand. Ich war das junge Flittchen, das liederliche Bürgermädchen aus Montgomery, die Miss Alabama der Kasernen und Gefängnisse. Und ich hatte keine Ahnung!

Wer wird den ersten Stein werfen? Wer wagt es zu behaupten, dass es sich in den Armen eines jungen Mannes nicht gut liegt, in der Umarmung eines sanften, ernsten Jungen auf dem Weg in einen absurden Krieg? Wie gern würde man sie verjagen, die Männer mit den verwüsteten Gesichtern, mit den unter den Nähten und Plastikteilen unleserlichen Fratzen, denen man in der Metro und den Räuberhöhlen von Paris begegnet. Sie stören. Ihre physische Deformation ist ein Spiegelbild unserer monströsen Moral.

»Ich hätte von Ihnen gern ein wenig mehr Haltung«, beklagt sich Lubow. »Ich bin an Leute gewöhnt, die für Stange und Spiegel alles opfern. Sie verwechseln das Training mit der Kunst, aber was Ihnen wie ein Sakrileg vorkommen wird, ist die traurige Wahrheit. Denn es gibt keine Begabung, meine Schöne, keine Bestimmung, es gibt nur das schreckliche, alles andere ausschließende Training, das Schwitzen, das Stöhnen, das Flehen, woraus dann irgendwann einmal die Kunst entsteht. Vorausgesetzt, dass man den Spiegel vergisst.

Wie wollen Sie überhaupt tanzen? Ihre Beine sind so dürr, Ihre Knöchel nicht größer als meine Faust. Und von den Fesseln bis zum Knie bestehen Sie nur aus Knochen – kein Muskel, noch nicht einmal der Ansatz einer Wade. Ihre Beine sind verkümmert, meine Kleine. Ich sage Ihnen das besser gleich, damit Sie sich keine falschen Hoffnungen machen.« Wenn das zutrifft, trainiere ich einfach doppelt so viel. Und ich werde alle Fotos abschneiden, auf denen ich in ganzer Länge abgebildet bin, damit man meine hölzernen Beine nicht sieht.

Die Nacht brach herein. Ich setzte mich auf eine Bank am Boulevard des Batignolles, wo die Kastanienbäume ihren angenehmen Duft verströmen und von wo aus ich das Kino Pathé-Clichy sehen kann. Es ist kein Kino, auch kein Theater. Es ist ein wunderbares Schiff, ein gläserner Bug, der auf den Platz schwimmen möchte, der sich auf die Rue d’Amsterdam stürzen und bis zum Bahnhof Saint-Lazare gleiten möchte. An manchen Abenden verlasse ich das Studio so zerschlagen und erschöpft, dass ich keine Lust mehr habe, noch jemanden zu sehen. Dann gehe ich zu der Bank am Boulevard des Batignolles und betrachte das Schiffskino, bis ich die Zeit vergessen habe.



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